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Theorie und Historie

Voderbergsche Neunecke und Voderbergsche Doppelspiralen

David Hilbert (1862-1943) ist einer der herausragendsten Mathematiker der letzten Jahrhunderte. Berühmt ist seine Liste von 23 mathematischen Problemen, die er auf dem Internationen Mathematikerkongress in Paris im Jahre 1900 vorstellte. Mit seiner visionären Liste beeinflusste er die Forschung eines ganzen Jahrhunderts. Einige dieser Probleme wurden bald gelöst, andere sind es bis heute nicht.

Karl August Reinhardt (1895-1941) promovierte bei Ludwig Bieberbach. Er lehrte ab 1924 in Greifswald, wo er ab 1928 eine Professur innehatte.

Heinrich Heesch (1906-1995) war deutscher Mathematiker und Kristallograf. Er promovierte 1928 in Zürich und arbeitete anschließend zunächst in Göttingen. Weil er sich weigerte, dem nationalsozialistischen Dozentenbund beizutreten, arbeitete er 1935 bis 1948 als Privatmann. Später wurde er durch seinen Anteil am Beweis des Vierfarben-Problems berühmt.

Heinz Voderberg (1911-1945) studierte in Greifswald bei Karl Reinhardt. 1936 absolvierte er ein Referendariat. 1938 wurde er bis zu einer Verwundung 1943 Soldat. Danach arbeitete er für einige Monate mit Robert König in Jena auf dem Gebiet der mathematischen Geodäsie, bevor er in den letzten Kriegstagen fiel, als er sich mit seiner Einheit ergeben wollte.

David Hilbert stellte in seinem berühmten Vortrag als 18. Problem die Frage nach dem Aufbau des Raumes aus congruenten Polyedern.. Die originale Formulierung war umfangreich, doch wir wollen uns hier auf eine Frage aus dem letzten Abschnitt seines Textes beschränken: ob ferner auch solche Polyeder existiren, die nicht als Fundamentalbereiche von Bewegungsgruppen auftreten und mittelst derer dennoch durch geeignete Aneinanderlagerung congruenter Exemplare eine lückenlose Erfüllung des ganzen Raumes möglich ist.

Dieser Frage ging Karl Reinhardt nach. Im Jahre 1928 fand er einen Baustein, der Hilberts Frage eindeutig mit "Ja" beantwortete.

Der von Karl Reinhardt gefundene Baustein Zusammengesteckte Bausteine
Reinhardts Baustein - er sieht simpel aus, löste aber ein tiefgreifendes mathematisches Problem. Der zweite Baustein entsteht durch eine Schraubung aus dem ersten. Das entstandene Paket kann man zu kreuzförmigen Säulen aufstapeln, die aneinandergefügt den Raum ausfüllen. Aber der zweite Baustein geht nicht durch dieselbe Schraubung in einen weiteren Baustein der Zerlegung über!

Heeschs Polygon
Heeschs Fliese: Auch hier kann die Gleitspiegelung, die die linke in die rechte Fliese überführt, nicht fortgesetzt werden.
Zur allseitigen Überraschung konnte Heinrich Heesch 1932 ein ebenes Polygon vorstellen, das Hilberts Frage auch für die Ebene bejahte. Heesch konnte seine Entdeckungen zur Parkettierung der Ebene in die Produktion neuartiger Fliesen überführen, mit denen bis dahin unbekannte Muster möglich wurden. In einem Brief wird sogar eine "Beratungsstelle für Flächenteilung" erwähnt.

Die Parkettierungen der Ebene und des Raumes wurden weiter untersucht. Hilberts Aufgabe mag sehr theoretisch und weltfremd klingen, doch die Erkenntnisse der Mathematiker brachten die Kristallografen ein ganzes Stück voran und halfen, die Strukturen der Materie zu verstehen. Auch die Industrie interessierte sich für die Ergebnisse, um beispielsweise den Verschnitt beim Stanzen von Teilen zu minimieren.

Im Zuge seiner Forschungen gab Reinhardt 1934 eine Aufgabe an seinen Studenten Heinz Voderberg weiter:

Gibt es zwei kongruente geradlinig begrenzte Pflastersteine, die ein Loch so umfassen, dass ein oder zwei weitere dazu kongruente Pflastersteine genau hineinpassen?

Reinhardt meinte, das sei nicht möglich, und er stand mit dieser Ansicht nicht allein. Um so erstaunlicher ist es, dass Voderberg 1936 statt des erwarteten Gegenbeweises mit einer Lösung aufwarten konnte.

Voderberg-Neunecke
Voderbergs Gegenbeispiel
Die Voderberg-Neunecke lassen sich mit elementargeometrischen Überlegungen konstruieren. Die äußeren Ränder der beiden braunen Teile sind jeweils punktsymmetrisch, der innere Rand ergibt sich durch eine Drehung um die Spitze.

Wählt man den Drehwinkel passend, so lassen sich die Neunecke zu wundervollen Figuren zusammensetzen. Die Voderbergschen Doppelspiralen parkettieren die gesamte Ebene.

Voderbergsche Doppelspirale
Voderbergsche Doppelspirale mit 19 Teilen im Halbkreis
Interessanterweise lassen sich die Teile aber auch zu einer sehr regelmäßigen Parkettierung auslegen. Durch Kombination von Halbkreisen und geradlinigen Anordnungen entstehen Ovale.

Mit seinen Doppelspiralen ordnet sich Heinz Voderberg in die Reihe der großen Geometer ein. Der zweite Weltkrieg hinderte ihn daran, seine Forschungen weiterzuführen. Seine Promotionsschrift schickte er auf Postkarten nach Hause, wo sie von seiner Frau abgetippt wurde. Vom 18. Februar 1945, wenige Wochen vor seinem tragischen Tod, ist ein Antwortbrief an Heinrich Heesch erhalten, in dem er schreibt: Sie werden verstehen, dass auch mich das Parkettierungsproblem nicht losgelassen hat. Ich bin leider durch zwei Jahre Referendarzeit (1936-1938) und 4 1/2 Jahre Soldatenzeit (Jan.1940 - Sept. 1944) nur wenig zum Arbeiten gekommen.

Regelmäßige Parkettierung mit Voderbergschen Neunecken Kreisförmige Anordnung Voderbergscher Neunecke Innenspirale
Regelmäßige Parkettierung mit Voderbergschen Neunecken Die kreisförmige Anordnung kann auf die gesamte Ebene ausgedehnt werden. Auch diese Doppelspirale parkettiert die gesamte Ebene.

Heinz Voderberg fiel in den letzten Kriegstagen des zweiten Weltkriegs, als er - erneut einberufen - sich mit seiner Einheit ergeben wollte. Allen anderen Angehörigen seiner Einheit rettete er dadurch das Leben: Sie kamen unversehrt in Gefangenschaft.

Seine Tochter Linda arbeitete das Werk ihres Vaters in ihrer Diplomarbeit auf. Das Institut für Mathematik und Informatik der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald hat die Voderbergsche Doppelspirale als Logo übernommen.


© R. Sontag, H. Geisler, 19.06.2008